Die Wunden von Hanau

Der rassistische Terroranschlag von Hanau

Am 19. Februar 2020 ermordete ein rechtsextremer Attentäter neun Menschen in Hanau. Ihre Namen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Drei Jahre später wissen wir noch immer nicht genau, was in dieser entsetzlichen Nacht wirklich geschah. Wie kann das sein, in einem Rechtsstaat?

Was läuft schief bei der Aufklärung eines der schwersten rechtsextremen Verbrechen der Nachkriegszeit? Notrufe, die im Nirgendwo landen. Ein Notausgang, der wohl verschlossen blieb. Menschen, die immer noch Angst haben, über diese Nacht zu sprechen. Deshalb wollen Yağmur Ekim Çay und Gregor Haschnik in diesem Dossier dazu beitragen, dass die Morde von Hanau, die Opfer und auch die Fragen, die bislang ungeklärt blieben, nicht vergessen werden.

Denn es bleibt ein schlechtes Gefühl: Nach vielen rechtsextremen Anschlägen der vergangenen Jahre hat der Staat eben nicht mit allen Kräften für Aufklärung gesorgt. Stets brauchte und braucht es investigativen Journalismus, hartnäckige Anwält:innen und das Durchhaltevermögen der Betroffenen, um rassistische Strukturen bei den Sicherheitsbehörden, bei der Justiz oder in der Politik aufzudecken. Auch in Hanau ist das der Fall. Doch was bedeutet ein Staat, der nicht schützt, eine Polizei, die nicht hilft, eine Gesellschaft, die nichts ändert?

Was passiert, wenn sich von Rassismus betroffene Menschen auf die Demokratie in unserem Land nicht verlassen können? An wen sollen sie sich wenden?

Am 19. Februar 2020 wurde Vertrauen zerstört – in Orte, in Selbstverständlichkeiten, in Grundsätze des Zusammenlebens. Durch Hanau ist etwas zerbrochen. Wir haben in diesem Dossier versucht, ein paar der Scherben einzusammeln.

Lassen Sie uns diese Nacht nicht vergessen.

Foto: Michael Schick
Kerzen für die Opfer.

Tatort: Hanau-Kesselstadt

Für Polizei, Medien, Politiker ist der Hanauer Stadtteil „ein Problemviertel". Für die, die im Schatten der Hochhäuser am Kurt-Schumacher-Platz aufwachsen, ist Kesselstadt – einer der Tatorte der rassistischen Morde vom 19. Februar 2020 – ein Zuhause. Allerdings eines, mit dem sie eine Hass-Liebe verbindet.

„454“ steht auf einer Tür, die zum evangelischen Jugendzentrum „k-town" führt. Hier sieht man diese drei Zahlen immer mal wieder, manchmal als Tattoo, manchmal als Graffiti – die Endziffern der Postleitzahl für den Stadtteil Kesselstadt. Ein Ort, der für viele ein geliebtes Zuhause und für manche ein "Kriminalitäts-Hotspot" ist. Und seit dem 19. Februar 2020 ein Ort der Trauer - denn hier, am Kurt-Schumacher-Platz, hat der Täter sechs Menschen ermordet.

„Ein Sorgenkind", „ein Problemviertel" - so nennen Medien, Politiker oder Polizei Kesselstadt seit Jahren. Geplant wurde das Viertel in den 1960er Jahren auf einer Fläche von etwa 60 Hektar, um die Wohnungsnot zu lindern. Im Gegensatz zu den Einfamilienhäusern an der Peripherie entstanden in diesem neuen Quartier rund um den Kurt-Schumacher-Platz mehrere Hochhäuser, die viele migrantisierte Menschen und Arbeiter:innen anzogen.

Direkt unter einem dieser Hochhäuser befanden sich die Arena Bar und der Kiosk 24/7 nebeneinander. Zweiter Tatort in Hanau. Eigentlich war die Arena Bar nie ein Ort, den man schön fand. Polizeirazzien gehörten dort zur Normalität. Der Besitzer der Bar mochte die Jugendlichen aus Kesselstadt nicht und die Jugendlichen ihn auch nicht, denn er wollte „nur an den Spielautomaten dort Geld verdienen und keine anderen Gäste“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter.

Viele Migranten, viele Sozialwohnungen und viel Armut. Das Ziel von jedem ist irgendwann mal da auszuziehen, rauszukommen.

Said Etris Hashemi über Hanau-Kesselstadt
Foto: Michael Schick
Said Etris Hashemi überlebte den Anschlag schwer verletzt. Er ist in Kesselstadt aufgewachsen. Jeder, der hier lebe, sagt er, habe schon einmal mit der Polizei zu tun gehabt – „egal, ob du ein Krimineller bist oder nicht."

Dennoch waren oft Jugendliche dort, manchmal jeden Tag. So wie Said Etris Hashemi, der den Anschlag schwerverletzt in eben dieser Bar überlebt hat, während sein Bruder Said Nesar ermordet wurde. So wie er hat sich auch Said Etris mittlerweile die 454 tätowieren lassen. „Man hat sich in der Arena Bar getroffen, weil es warm war, man konnte Fußball schauen, man konnte chillen. Diese Möglichkeit hat man sonst nirgends in Kesselstadt gehabt“, sagt Hashemi. 26 Jahre hat er in Kesselstadt gelebt. Dort fühle er sich zu Hause. „Ich bin hier aufgewachsen, kenne die Gegend in- und auswendig, jede Ecke. Ich kenne die Leute und habe das Gefühl, geborgen zu sein.“ Dennoch bezeichnet er seine Beziehung zum Viertel als "Hassliebe". „Das Ziel von jedem ist, irgendwann mal da auszuziehen, rauszukommen", erzählt er. „Viele Sozialwohnungen, viel Armut und viele Migranten“ gebe es in Kesselstadt. „Aber jeder chillt hier mit jedem, egal, woher man kommt“, betont Hashemi.

Foto: Michael Schick
Kim Schröder war schwanger und gerade im Kiosk, als der Täter dort mordete. Sie sagt: „Ich versuche für mein Kind so stabil wie möglich zu sein.“

Es war wie unser Wohnzimmer, ein Rückzugsort. Man hat dort wirklich immer jemanden getroffen. Du hattest immer eine Schulter zum Ausweinen, zum Reden.

Kim Schröder über die Arena Bar und den 24/7-Kiosk

Mit der Hassliebe zu Kesselstadt ist Hashemi nicht allein. Kim Schröder empfindet das Gleiche. Die 27-Jährige überlebte den Anschlag am 19. Februar 2020 als schwangere Frau. Sie mochte die Gegend zunächst nicht, aber die Wohnung dort war günstig und schön. Als sie einzog, „hat das ganze Haus mitgeholfen", obwohl niemand sie kannte. Die Arena Bar und der Kiosk seien auch für sie mehr als Gaststätten gewesen. „Es war wie unser Wohnzimmer, ein Rückzugsort", erzählt Schröder. „Du hattest immer eine Schulter zum Ausweinen, zum Reden." Dort konnte man bis zum Morgen plaudern, füreinander da sein, Spaß haben.

Eine andere Möglichkeit des Rückzugs war das Jugendzentrum, nur wenige Meter vom Kurt-Schumacher-Platz entfernt. Tagsüber gibt es dort Angebote wie Sport, Kultur und Bildung für Kinder und Jugendliche. Kim Schröder ging als Jugendliche zum Tanzen hin, Etris Hashemi zum Boxen.

Ich dachte erst, es ist wieder eine Razzia.

Günter Kugler, Mitarbeiter im Jugendzentrum „K-town“

An einem Holztisch dort sitzt Günter Kugler, seit mehr als 20 Jahren arbeitet er im k-town. Für mehrere Opfer war das Juz ein zweites Zuhause, etwa für Ferhat Unvar, dem Kugler am Abend des 19. Februar noch eine Wurst mit auf den Weg gab. Wenige Minuten später wurde Unvar im Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz erschossen. „Was passiert ist, werden wir nicht vergessen. Am Kurt-Schumacher-Platz vorbeizugehen, ist schlimm. Dann kommen die Bilder von jenem Abend wieder hoch“, sagt Kugler. Als er kurz nach den Schüssen den Platz erreichte, „dachte ich erst, es ist wieder eine Razzia“.

Nachdem er von dem Anschlag erfahren hatte, rief er seine Kollegin Antje Heigl. Sie blieben die ganze Nacht und versuchten, den vielen Traumatisierten zu helfen, „soweit das in einer solchen Situation möglich ist“. Kugler ist überzeugt: „Der Täter hatte das Juz ebenfalls im Visier.“ Ein Indiz dafür war ein Graffiti mit der Adresse seiner Bekennerwebseite, die der Täter auf einen Weg neben das Juz gesprüht hatte. Vielleicht habe der Täter von seinem Plan Abstand genommen, weil es sich um ein evangelisches Jugendzentrum handelt, und Orte wie die Arena Bar aufgesucht, die besser in sein rassistisches Weltbild passten.

Foto: Michael Schick
Günter Kugler und Antje Heigl, Mitarbeitende im „K-town“.

Die Ermordeten sind im k-town nach wie vor präsent: Viele Fotos von ihnen und gemeinsamen Unternehmungen hängen an den Wänden. Kaum jemand kennt das Viertel so gut wie Kugler und Heigl. Es ist „absolut bunt“, sagt sie, und die am dichtesten besiedelte Gegend der Stadt, mit den meisten Sozialwohnungen, aber auch vielen Einfamilienhäusern. Die sozialen Gegensätze seien groß. Etwa 60 Prozent der Kinder unter sieben Jahren leben in Familien, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Die meisten von ihnen wohnen auf engem Raum. „Viele Kinder und Jugendliche haben kaum Rückzugsorte, etwa um zu lernen“, berichtet Heigl.

Andererseits gebe es zum Beispiel relativ viele Grünflächen und einen starken Zusammenhalt unter den Bewohner:innen. Der Kurt-Schumacher-Platz, so Kugler, sei ein Treffpunkt und ein Ort, der eine gute Nahversorgung biete. Das Viertel sei noch nie ein Kriminalitätsschwerpunkt gewesen. Die vielen Polizeikontrollen und Razzien seien kaum nachvollziehbar: „Bei manchen Bürger:innen ist das subjektive Sicherheitsgefühl schlecht, doch die Realität ist eine andere.“

Michael Schick
Erinnerungen an die Opfer im Juz „K-town“.

Im Juz halten sie die Erinnerung an die Opfer wach, schauen aber auch nach vorne. Kürzlich haben sie sich erfolgreich für den von ihnen bevorzugten neuen Standort des k-town eingesetzt, der ganz in der Nähe liegt. Bei einer Präsentation im Rathaus waren rund 100 Jugendliche dabei. „Sie haben das klasse gemacht. Wir sind unfassbar stolz“, sagt Kugler. In den vergangenen Jahren mussten das Juz und das pädagogische Box-Projekt dort immer wieder ums Überleben kämpfen. Sie hoffen, dass diese Zeiten vorbei sind. Was die Aufarbeitung des Anschlags angeht, ist Kugler wenig zuversichtlich: „Viele haben das Gefühl, dass er nie aufgeklärt wird und keine echten Konsequenzen gezogen werden.“

Der Attentäter und der Anschlag

Seine krude, rassistische Gesinnung offenbarte der Täter schon lange vor den Morden. Die hetzerische Debatte über Shisha-Bars trug zur seiner Radikalisierung bei. Vor der Tat fertigte er eine Art To-do-Liste an, schätzte die Zahl der Todesopfer auf 30. Am Abend des 19. Februar 2020 machte er sich auf den Weg zum Hanauer Heumarkt.

Weit vor dem Anschlag machte der Attentäter auf sich aufmerksam. Zu den Spuren, die er hinterließ, gehörten mehrere Graffiti mit der Adresse seiner Webseite, auf der er schließlich all seine rassistischen und verschwörungstheoretischen Ansichten verbreitete. Einen Schriftzug sprühte er auf die Wand einer Unterführung, die zwischen seinem Zuhause und dem zweiten Tatort am Kurt-Schumacher-Platz liegt. Ein Vater, der mit seinem Kind dort regelmäßig hielt, weil es sich gerne ein buntes, gegenüberliegendes Graffiti anschaute, sagte aus, dass er die Webadresse bereits etwa ein Jahr vor den Morden bemerkte.

Tatorte gezielt ausgewählt

In den Tagen vor den Attentaten spähte der 43-Jährige wiederholt Orte aus, die häufig von Menschen mit internationaler Geschichte besucht wurden. So betrat er zum Beispiel am 8. und 9. Februar sowie am 14. und 15. Februar mehrfach den 24/7-Kiosk und die Arena Bar, wie Aufnahmen einer Überwachungskamera belegen. Außerdem hielt er sich einige Zeit in einem nahegelegenen Wettbüro mit angrenzender Shisha-Bar auf. Vermutlich mordete er dort nur deshalb nicht, weil das Lokal im Tatzeitraum wegen Renovierung geschlossen war.

Sicher ist, dass er die Tatorte bewusst ausgewählt hat – weil er sie, ähnlich wie sein Vater, als Kriminalitätsschwerpunkte betrachtete, für die in seinen Augen „Ausländer“ verantwortlich waren. Dabei war er selbst bei Ermittlungsbehörden alles andere als ein Unbekannter: Gegen ihn liefen unter anderem Ermittlungen wegen Sozialleistungsbetrugs und Drogenbesitzes, die letzten Endes eingestellt wurden.

Der Hanauer dachte offenbar auch darüber nach, an Schulen zu töten, und zwar an bestimmten: Auf Google suchte er unter anderem nach „hauptschulen frankfurt am main“ sowie nach einer interkulturellen und einer integrativen Schule in Frankfurt.

Vernichtungsphantasien

Welche Ansichten der 43-Jährige hatte, verbreitete er in Texten und Videos auf seiner Bekennerwebseite. Er richtete sich an „alle deutschen Männer und Frauen“ und behauptete, dass „die Existenz gewisser Volksgruppen an sich ein grundsätzlicher Fehler ist“. Völker aus bestimmten Ländern, darunter Israel, Pakistan und die Türkei, müssten komplett vernichtet werden. R. gab an, man müsse mehrere Milliarden Menschen eliminieren. Sein eigenes Volk hingegen sei das beste und schönste, das die Welt zu bieten habe, wobei nicht jeder, der einen deutschen Pass besitze, „reinrassig und wertvoll“ sei.

Gleichzeitig äußerte er immer wieder, dass er von einer weltweit agierenden Geheimorganisation überwacht und bedroht werde. „Dieser Krieg ist als Doppelschlag zu verstehen, gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes!“ Er griff ein Zitat von Adolf Hitler auf und variierte es: „Ich glaube nicht, dass Leute die heute lachen, in Zukunft noch lachen werden.“ Vermutlich bezog er sich auch auf die späteren Opfer, denen er in seiner Nachbarschaft begegnet ist, die sich in dem bunten Viertel in der Arena Bar und im 24/7-Kiosk trafen, lachten und glücklich waren.

Foto: dpa
Die Webadresse des Attentäters in der Nähe eines der Tatorte ist übermalt worden.

Schon in den Jahren zuvor war der Attentäter gegenüber Arbeitskollegen mit rassistischen Sprüchen aufgefallen. Er habe sich abfällig über Mitarbeitende türkischer Herkunft geäußert, manchen deutschen Fußball-Nationalspielern abgesprochen, Deutsche zu sein, und über „kriminelle Ausländer“ fabuliert.

Es sind krude, rassistische Theorien, die sein Vater vor und nach dem Terroranschlag zum Teil ebenfalls äußerte. Der psychiatrische Sachverständige hat analysiert, dass der Attentäter von Kindheit an durch „rechtskonservative“ Ansichten seines Vaters geprägt worden sei. Etwa ein Jahr vor dem Anschlag habe er sich radikalisiert und eine gewaltbereite Haltung entwickelt. Auch wenn R. ein Einzelgänger gewesen sei, habe sich die Radikalisierung nicht „im luftleeren Raum“ vollzogen. Dazu beigetragen hätten öffentliche Diskurse – wie jene über Shisha-Bars. Der 43-Jährige verübte den Anschlag in einer Zeit, in der besonders die AfD ständig gegen solche Lokale hetzte und harte Konsequenzen gegen die dort angeblich agierenden Verbrecher forderte.

Gutachter spricht von einer paranoiden Schizophrenie

Gleichzeitig sei der Täter an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt und überzeugt gewesen, Geheimdienste verfolgten ihn. Beides sei miteinander verwoben und habe zu den Morden am 19. Februar 2020 geführt, so der Gutachter. Vater und Sohn attestierte er eine „Folie à deux“, einen symbiotischen Wahn. Die enge Bindung der beiden zeigte sich auch bei den vielen rechtlichen Auseinandersetzungen: Fast nie agierte der Attentäter selbst, sondern bevollmächtigt Hans-Gerd R. Auch in seinen Traktaten erwähnt der Mörder den heute 75-Jährigen mehrfach, bringt zum Beispiel seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass sein Vater immer noch in Vollzeit arbeiten müsse, weil das Geld nicht reiche.

Täter holte sich im Netz Bestätigung

Die Gesinnung des Terroristen speiste sich auch aus rechtspopulistischen bis rechtsextremen Tendenzen in Deutschland. In seinem Bücherregal fanden die Ermittler:innen neben einem Buch mit Reden von Adolf Hitler auch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarazzin. Das Internet spielte ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Radikalisierung. Hier war er nicht nur auf Seiten mit Nazi-Devotionalien unterwegs und suchte nach SS-Orden und -Uniformen. In den Monaten vor dem Terroranschlag holte sich der Attentäter im Netz Bestätigung: Nach FR-Informationen besuchte er etwa Seiten der rechtsextremen Alt-Right-Bewegung aus den USA, schaute sich Videos der nordrhein-westfälischen AfD-Landtagsfraktion und ein Video von Martin Sellner an, dem Chefideologen der Identitären Bewegung.

Und ganz kurz vor der Tat, am 17. und 18. Februar, sah er Aufnahmen von der 200. Veranstaltung von Pegida in Dresden. Zu den Rednern gehörten der rechtsextreme Björn Höcke (AfD) und Lutz Bachmann. Höcke sprach unter anderem von einer „geschlossenen transatlantischen Politelite“, die den Plan einer „Überwindung der Völker“ verfolge.

Der Attentäter fertigte eine Art To-do-Liste an. Auf einer Skizze zeichnete er den späteren Tatablauf mit der Route vom Heumarkt in der Innenstadt bis zu seinem Wohnhaus. Dabei schätzt er an einer Stelle auch die Zahl der Todesopfer auf „30“.

Am 19. Februar 2020 gibt er kurz vor 22 Uhr die ersten Schüsse ab. In der Bar „La Votre“ ermordet der 43-Jährige zunächst Kaloyan Velkov und auf der Straße vor dem Lokal Fatih Saraçoğlu. Dann betritt er die nur wenige Meter entfernte „Midnight Bar“ und erschießt Sedat Gürbüz. Alles geschieht innerhalb weniger Sekunden.

Vili Viorel Păun verfolgt den Täter im Auto

Als der Täter kurz darauf Mustafa Tunç begegnet, schießt er nicht, sondern mustert ihn. Tunç hat türkische Wurzeln, aber blaue Augen und helle Haut und ist überzeugt, dass ihn das vor dem Tod bewahrte. Der Mörder geht weiter, kommt wieder und mustert Tunç erneut. Dann verlässt er den Heumarkt.

Er steigt in sein Auto und fährt zum Kurt-Schumacher-Platz in Hanau-Kesselstadt. Vili Viorel Păun, der ihn aus seinem Auto heraus beobachtet und gestört hat, folgt ihm. Er hat offenbar dazu beigetragen, dass der Täter seinen schriftlich festgehaltenen Plan, hier „mind. 10“ Menschen zu töten, nicht umsetzt. Auf dem Parkplatz vor der Arena Bar zahlt Păun, der vorher vergeblich den Notruf wählt, dafür mit seinem Leben. Der 43-Jährige erschießt ihn durch die Windschutzscheibe.

Danach geht er in den 24/7-Kiosk. Hier tötet er Gökhan Gültekin und Mercedes Kierpacz, die gerade für ihre Kinder etwas zu essen holen will, außerdem Ferhat Unvar, der vor kurzem seine Abschlussprüfung bestanden hat. Die schwangere Kim Schröder bleibt wie durch ein Wunder von den Kugeln verschont.

In der Arena-Bar eröffnet der Täter sofort das Feuer

Anschließend mordet der Rechtsextremist in der Arena Bar weiter. Er eröffnet sofort das Feuer. Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović werden erschossen, Said Etris Hashemi und weitere Gäste zum Teil lebensgefährlich verletzt. Sie sind nicht zur Fluchttür gerannt, sondern haben vergeblich Schutz hinter eine Säule gesucht, weil laut vielen Zeug:innen bekannt war, dass der Notausgang immer verschlossen war. Vermutlich aufgrund von Absprachen zwischen dem Betreiber und der Polizei, damit diese bei Razzien leichteres Spiel hatten, was beide zurückweisen.

Dann fährt der Terrorist mit seinem Auto nach Hause, wo er später seine Mutter und sich selbst umbringt. Was genau dort passiert, ist nach wie vor unklar – auch weil es etwa fünf Stunden dauert, bis das SEK das Haus stürmt.


Die Opfer der rassistischen Morde in Hanau

Seitlich wischen, um alle zu sehen

Die Polizei

In Kesselstadt sind sie häufige Kontrollen gewohnt: Der Stadtteil und insbesondere der Kurt-Schumacher-Platz gilt der Polizei als mutmaßlicher „Kriminalitäts-Hotspot“. Eine mögliche Zusammenarbeit von Polizei, Stadt und dem Betreiber der Arena Bar lässt bis heute Fragen offen.

Das Lokal im Erdgeschoss eines Hochhauses wirke heruntergekommen und ziehe Personen an, die in Kesselstadt unerwünscht seien, hat ein Hanauer Kommissar mal in einem Interview gesagt. Darauf reagiere die Polizei mit häufigen Kontrollen. Der Ort, um den es ging, ist der zweite Tatort des 19. Februar 2020: die Arena Bar im Stadtteil Kesselstadt.

Die Bar und das Viertel wurden bei der Polizei als mutmaßlicher „Kriminalitäts-Hotspot“ geführt. Auch deswegen war Hanau eine von vier sogenannten Pilotkommunen im Programm „Kompass“ („Kommunalprogramm Sicherheitssiegel“). Damit zielte das Land Hessen nach eigenen Angaben auf eine „enge Zusammenarbeit zwischen Land und Kommune“ bei der Präventionsarbeit ab, eine Kooperation etwa zwischen Polizei und Ordnungsämtern. Dabei wurde zum Beispiel auf eine „deutlich sichtbare Präsenz von gemeinsamen Streifen der Stadtpolizei und dem Schutzmann sowie der Schutzfrau vor Ort“ gesetzt, wie Eberhard Möller, Polizeipräsident des Polizeipräsidiums Südosthessen, erklärt.

Rassistischer Terror-Anschlag in Hanau: Der Polizeieinsatz (DE) from Forensic Architecture on Vimeo.

In Hanau lag ein Schwerpunkt im Programm auf Kesselstadt. Ein wesentlicher Bestandteil des Programms „ist die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, auch in Form von Bevölkerungsbefragungen“, teilt das Polizeipräsidium Südosthessen auf FR-Anfrage mit. Die Befragung 2018 habe gezeigt, dass „unter anderem der Kurt-Schumacher-Platz von den Befragten als Ort empfunden wurde, an dem sie sich nicht sicher fühlen“. Die Umfrage, die der FR vorliegt, enthält zum Teil suggestive, rassistische Elemente. So wird etwa erhoben, ob Migrant:innen, Flüchtlinge, Shisha-Bars oder „Parallelgesellschaften“ als Problem wahrgenommen werden.

Man fällt in ein Raster: Hier sind die Kanaken.

Said Etris Hashemi

Infolge der Erkenntnisse aus der Studie sei die Präsenz der Stadt- und Landespolizei erhöht worden, zum Beispiel durch Intensivierung der gemeinsamen Streifen, das Angebot regelmäßiger Bürgersprechstunden und eine Polizeikraft vor Ort.

Jugendliche aus Kesselstadt halten dagegen: Manche hier kifften ab und zu, „wie überall“. Allerdings sei ihr Viertel ein sicherer Ort gewesen. Durch die vielen Kontrollen und Racial Profiling habe die Polizei jedoch einen anderen Eindruck gerade im Hinblick auf junge Leute wie sie vermittelt – auch in der Nachbarschaft. Bei Razzien in der Arena Bar seien zwar manchmal Drogen gefunden worden, aber fast ausschließlich in geringen Mengen und zum eigenen Konsum. Dennoch habe die Polizei alle wie „Schwerverbrecher“ behandelt, sagen sie. In den Polizeistatistiken der vergangenen Jahre zeigt das Quartier insgesamt keine signifikanten Unterschiede zu anderen.

„Jeder, der in Kesselstadt lebt, hatte schon einmal mit der Polizei zu tun“, sagt Said Etris Hashemi, „egal, ob du ein Krimineller bist oder nicht. Man fällt in ein Raster.“ Dieses Raster sei klar: „Hier sind die Kanaken.“ Ein Kommissar bezeichnete die Bar im Hanau-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags als „dreckigsten Ort“, den er in seinem Leben gesehen habe.

Sobald du den Nachnamen Schröder erwähnst, sind die plötzlich anders zu dir.

Kim Schröder

Bei einigen Kontrollen hätten sich Polizisten rassistisch geäußert. „Ich gehe mal die Hände waschen, ich habe Dreck angefasst“, habe ein Polizist zu einem jungen Mann, dessen Name der FR bekannt ist, während einer Kontrolle gesagt. Hashemi habe seine erste Polizeikontrolle im Alter von 13 Jahren erlebt, als er auf dem Weg zum Fußballtraining war. „Man fühlt sich wie ein Krimineller“, sagt er.

Auch die Überlebende Kim Schröder habe solche Kontrollen mitbekommen und selbst Rassismus erlebt: „Ich sehe zwar nicht deutsch aus, aber auf meiner Klingel steht ,Schröder‘. Sobald du den Nachnamen Schröder erwähnst, sind die plötzlich anders zu dir.“

Die Polizei geht von 49 Razzien vor Ort in den Jahren von 2015 bis 2020 aus, aber Augenzeug:innen geben an, dass es viel mehr Einsätze gewesen seien. Das Polizeipräsidium Südosthessen bestätigt der FR, dass nicht alle Kontrollmaßnahmen der Polizei dokumentiert sind, wie etwa die „normale tägliche Streifentätigkeit“.

Foto: Michael Schick
Gedenkstätte für Vili Viorel Păun vor der Arena Bar

Auffällig ist auch, dass an den Razzien häufig Schüler:innen der Polizeiakademie Mühlheim teilnahmen. Dies gehöre zur Ausbildung, da es sich bei Razzien um „normale polizeiliche Maßnahmen“ handele, so die Polizei. Zu den Anwärter:innen, die bei Razzien dabei waren, gehören nach FR-Recherchen auch Mitglieder der Klasse P-2/16. Diese löste Empörung aus, als 2019 öffentlich wurde, dass ein großer Teil der Schüler:innen in einer Chatgruppe war, in der rechtsextreme Inhalte geteilt wurden. Dabei wurde etwa der Begriff „Bambusratte“ in Bezug auf asiatische Menschen verwendet sowie Rumänen als „Muränen“ bezeichnet. Außerdem wurde ein Bild geteilt, das einen Zugwaggon zeigt, in dem zwei uniformierte Männer mutmaßlich Juden abtransportieren lassen. Darunter die Unterschrift: „Genieße das Leben in vollen Zügen“ – ein Bild, das an einen Deportationszug erinnert.

Stadtpolizist:innen, die auch in der Arena Bar kontrollierten, nahmen derweil am Einsatztraining eines Ex-Polizisten teil, der mit rechtspopulistischen Äußerungen aufgefallen war. Die Stadt Hanau habe vor knapp fünf Jahren, wenige Wochen nach dem Training, davon erfahren, räumt ein Sprecher auf FR-Anfrage ein. Die Teilnahme habe, da sie in der Freizeit und auf eigene Kosten erfolgt sei, aber nicht genehmigt werden müssen. Die Stadt, die Leitung des Ordnungsamtes und die Verantwortlichen der Stadtpolizei, die von ihrer Diversität lebe, distanzieren sich „in aller Deutlichkeit von rechtem Gedankengut“.

Es hört nicht auf. Der Anschlag hat alles zerstört.

Ibrahim Akkuş

Ibrahim Akkuş wurde in der Arena Bar durch mehrere Schüsse schwer verletzt und ist seitdem auf den Rollstuhl angewiesen.

Mit der FR sprach er erstmals über seine Geschichte

Foto: Michael Schick
Ibrahim Akkuş überlebte schwer verletzt.

Der Notausgang war wohl am Tatabend verschlossen

Eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Sicherheits- und Ordnungsbehörden sowie dem Barbetreiber lässt bis heute Fragen offen. Der Wirt sei in mehreren Fällen kurz vor einer Razzia in die Bar gekommen, „als ob er schon davon wusste“, erzählen Zeug:innen. Auch gab ein früherer Mitarbeiter im Untersuchungsausschuss an, der Gastronom habe ihm gesagt, er solle sich wegen der Polizei keine Sorgen machen.

Bei den Kontrollen, bei denen Landespolizei und städtische Behörden in der Regel gemeinsam agierten, wurde dreimal ein verschlossener Notausgang in der Bar festgestellt.

Mittlerweile gilt als so gut wie sicher, dass die Tür am Abend des 19. Februar 2020 versperrt war, die Gäste davon ausgingen und nicht vor dem Attentäter flüchten konnten. Zwei Polizist:innen, die kurz nach dem Terroranschlag vor Ort waren und im Untersuchungsausschuss ausgesagt haben, fanden eine versperrte Tür vor.

Foto: Michael Schick
Der Notausgang der Arena Bar mit Polizeisiegel.

Der Vater des Täters

Die Rolle von Hans-Gerd R. ist nach wie vor nicht aufgeklärt. Er stand wegen rassistischer Beleidigung vor Gericht, tauchte wiederholt vor der Wohnung einer Hinterbliebenen auf.

Anfang dieses Jahres tauchte Hans-Gerd R. wieder in der Nähe des Hauses von Serpil Temiz Unvar auf, der Mutter des ermordeten Ferhat. Um einen Platzverweis durchzusetzen, brachte die Polizei, die das Haus bewacht, R. für eine Nacht in Gewahrsam. Zuvor hatte er immer wieder gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot verstoßen. Es wurde erlassen, nachdem er sich mit seinem Schäferhund mehrfach vor Unvars Fenster aufgebaut und sie geängstigt hatte. Er soll gefragt haben, weshalb sie nach Deutschland gekommen sei und wie sie sich ein solches Haus leisten könne. „Ich fühle mich bedroht. Was passiert als nächstes?“, fragt Unvar.

Ich fühle mich bedroht.
Was passiert als nächstes?

Serpil Temiz Unvar

Es waren nicht die ersten Zwischenfälle mit dem Vater des Attentäters. Nach dem Anschlag forderte er unter anderem, ihm die Tatwaffen auszuhändigen und die Bekenner-Webseite seines Sohnes zu reaktivieren. Der Generalbundesanwalt hat jedoch keine Belege für eine mögliche Mittäterschaft des Vaters gesehen und die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.

Nach FR-Recherchen gibt es Hinweise darauf, dass sich der Vater in den Jahren vor dem Anschlag mit dem zweiten Tatort beschäftigte: Darauf deutet zum Beispiel die Aussage einer Nachbarin der R.s hin. Sie gab in einer Vernehmung an, wie Gabriele R. ihr Folgendes berichtete: Hans-Gerd R. habe bei der Polizei regelmäßig angezeigt, dass am Kurt-Schumacher-Platz ein „Drogenumschlagplatz“ gewesen sei. Die Beamt:innen hätten ihn jedoch „abgefertigt“. Das sei nicht seine Sache; er solle sich heraushalten. Sowohl R. als auch seine Frau seien daraufhin empört gewesen.

Foto: Michael Schick
Kurt-Schumacher-Platz.

Er selbst bestritt nach der Tat gegenüber Ermittelnden, in diesem Zusammenhang Anzeige erstattet zu haben, hielt aber einen langen Monolog über den „Ausländeranteil“ in Hanau und angeblich damit zusammenhängende Probleme. Im „Türkenviertel“, wo die Leute eine gefährliche Parallelwelt aufgebaut hätten und kein Deutsch sprächen, könne man als „Deutscher“ nicht mehr herumlaufen. Als er mal bei der Stadt Hanau einen neuen Ausweis beantragen wollte, seien dort „nur Ausländer“ gewesen. Er sei aber kein Rassist, betonte Hans-Gerd R., sondern weise nur auf Probleme hin.

Betrachtete der 75-Jährige den Kurt-Schumacher-Platz und die Arena-Bar ebenfalls als „Kriminalitätsbrennpunkt“ und teilte diese Sicht auch mit seinem Sohn? Ein paar Jahre vor dem Anschlag, 2017, fotografierte er die Bar und einen davorstehenden Mann. Dieser sei im Viertel wochenlang von Haus zu Haus gegangen, habe immer wieder geklingelt und vorgegeben, Spenden für ein Tierheim zu sammeln, gab R. an. Er sei dem Mann gefolgt.

Auch zum ersten Tatort, dem Heumarkt in der Innenstadt, scheint es einen Bezugspunkt zu geben. Der Vater des Attentäters sagte aus, dort gesehen zu haben, wie eine Frau in ein Auto gezerrt worden sei. Daraufhin sei er in einen Kiosk gegangen und habe die Mitarbeiterin gebeten, den Notruf zu wählen. Sie habe jedoch vermutlich Angst gehabt und es abgelehnt. Nachdem er die Polizei mit seinem eigenen Handy verständigt habe, sei diese erst nach einer Stunde gekommen und habe keine Anzeige aufgenommen.

Hans-Gerd R. und sein Sohn hatten offensichtlich ein enges Verhältnis. Der Vater wurde von dem 43-Jährigen angewiesen, seine rassistischen und verschwörungstheoretischen Botschaften zu bewahren: „Ganz Wichtig. Dies sind die Originalaufnahmen. Behalte diese als mein Vermächtnis“, steht auf einem Blatt, das im Haus der R.s gefunden wurde. Auf einem anderen heißt es: „Lieber Hans-Gerd, halte meine Webseite unter allen Umständen aufrecht (ebenso meine Original-Filmaufnahmen) und sorge dafür, dass diese der Öffentlichkeit zugänglich werden bzw. erhältlich bleiben! Vielen Dank!“

„Lunte“ vor Jahren „angezündet“

Vorher war Hans-Gerd R. in rechtlichen Angelegenheiten als Bevollmächtigter seines Sohnes aufgetreten, zum Beispiel gegenüber dem Kommunalen Center für Arbeit des Main-Kinzig-Kreises, über das der spätere Attentäter Sozialleistungen bezog. Ein Mitarbeiter erinnerte sich an persönliche Begegnungen mit Vater und Sohn, bei denen letzterer kaum zu Wort kam. Die verwirrt wirkenden Gedanken von Hans-Gerd R. seien ihm schon damals sehr suspekt gewesen. Den Sohn habe er nicht als rechtsradikal eingeschätzt, sein Weltbild sei vermutlich ein Produkt seines Vaters. Die „Lunte“ sei vor Jahren „angezündet“ worden.

FR7

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Vergangenen Herbst wurde Hans-Gerd R. vom Landgericht Hanau wegen Beleidigung in zwei Fällen, darunter eine rassistische, zu einer Geldstrafe von 4800 Euro verurteilt. In einem Schreiben hatte er Teilnehmende einer Mahnwache in der Nähe seines Reihenhauses – darunter Opfer-Angehörige – als „wilde Fremde“ bezeichnet. Das SEK, das nach dem Anschlag sein Haus gestürmt hatte, nannte er „Terroreinheit“.

Prozesse als Bühne genutzt

In erster Instanz hatte das Amtsgericht eine Strafzahlung von 5400 Euro festgesetzt. Die Prozesse nutzte R. als Bühne für seine Ansichten und deutete an, dass er Hinterbliebene im Blick hat. Er griff auf Narrative und Begriffe zurück, die unter Rechtsextremen verbreitet sind. So sprach er von „politischen Windmaschinen“ und bezog sich damit indirekt auf einen früheren Bundeswehroffizier, der einen rechtsterroristischen Anschlag geplant hatte.

R. hat bislang alle Vorwürfe zurückgewiesen, auch während der Gerichtsverhandlungen. Er sieht sich und seinen Sohn als Opfer, die beleidigt und verleumdet würden. Für die Morde sei nicht sein Sohn verantwortlich, sondern eine Geheimorganisation, die auch den 43-Jährigen und dessen Mutter getötet habe. Bitten der FR um Stellungnahme hat Hans-Gerd R. bislang nicht beantwortet.

In einem Schreiben an Ferhat Unvars Mutter kündigt er nach FR-Informationen rechtliche Schritte an und stellt hohe Schadenersatzforderungen. Er macht sie unter anderem dafür verantwortlich, dass er während der Mahnwache beleidigt worden sei. Außerdem habe sie Bilder von ihm gemacht und weitergegeben. In dem Brief benutzt er an einigen Stellen merkwürdige Kryptogramme mit Sonderzeichen und gibt „Gedenkstätte R.“ als seine Adresse an. Sollten die Vorwürfe bestritten und die geforderten Beträge nicht rechtzeitig gezahlt werden, so R., würden seine Interessen mit Härte weiterverfolgt werden.

Foto: Michael Schick
Ferhat Unvar hatte gerade seine Abschlussprüfung bestanden.

Die Aufarbeitung

War die Tür des Notausgangs in der Arena Bar tatsächlich verschlossen? Nachforschungen von FR und Forensic Architecture deuten darauf hin. Und das ist nicht die einzige offene Frage. Angehörige und Überlebende fordern Antworten, der Hessische Landtag befasst sich mit dem möglichen Versagen der Polizei. Die Behörden weisen alle Vorwürfe zurück.

Nach den Morden versprachen Politiker:innen von Bund, Land und Stadt regelmäßig vollständige Aufklärung durch den Staat. Dass es dabei massive Probleme geben sollte, zeigte sich aber bereits in der Nacht des Anschlags: Ein erfahrener Kriminalkommissar und sein Kollege verfassten für die Arena Bar und den 24/7-Kiosk keinen ausführlichen Tatortbefundbericht, sondern gaben nur einen Überblick – obwohl dort fünf Menschen erschossen und weitere schwer verletzt worden waren.

Hätte es diese Nachlässigkeiten auch bei einer Tat an einem nicht-migrantisierten Ort gegeben?

Der jüngere der Beamten sagte später aus, er habe gedacht, Kolleg:innen würden sich den Tatort noch einmal genauer anschauen. Der Ältere meinte, er sei nicht so gründlich vorgegangen, weil der Täter schon bekannt und tot gewesen sei. Eine Aussage, die gegen einen der wichtigsten kriminalistischen Grundsätze verstößt: Auch bei eindeutig scheinenden Sachverhalten muss immer gründlich notiert, fotografiert, gesichert werden. Hätte es diese Nachlässigkeiten, die sich fortsetzten, auch bei einer Tat an einem nicht-migrantisierten Ort gegeben?

Es gab keinen Fluchtweg, alle Türen waren zu.

Piter Minnemann, Überlebender

Am Morgen nach dem Anschlag berichtete der Überlebende Piter Minnemann der Polizei: „Dann kam er da rein, und es gab keinen Fluchtweg, alle Türen waren zu.“ Said Etris Hashemi erzählte kurz darauf ebenfalls vom verschlossenen Notausgang in der Bar.

Die frühen Aussagen von Minnemann und Hashemi blieben folgenlos. Erst ab Sommer 2020 befassten sich die Ermittlungsbehörden mit dem Notausgang, jedoch nicht von Amts wegen, sondern nachdem Armin Kurtović und weitere Angehörige und Überlebende Anzeige erstattet hatten. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen im August 2021 ein, unter anderem wegen „widersprüchlicher Zeugenaussagen“.

FR-Recherchen zeigten jedoch, dass es Lücken und Ungereimtheiten in dem Verfahren gab. Zum Beispiel wurden wichtige Zeug:innen nicht befragt, darunter einige Polizist:innen und Gäste, die bei den Razzien dabei waren. Und laut einer Untersuchung der internationalen Recherchegruppe Forensic Architecture, die auf einer aufwendigen Rekonstruktion des Geschehens in der Arena Bar basiert, hätten sich mindestens vier, wahrscheinlich sogar fünf Bar-Gäste retten können, wenn sie zu einem offenen Notausgang gelaufen wären.

Rassistischer Terror-Anschlag in Hanau: die Arena Bar (Vorläufige Untersuchung; DE) von Forensic Architecture on Vimeo.

Neue Hinweise kamen zumeist durch zivilgesellschaftliche Akteur:innen wie die Initiative 19. Februar, Medien und besonders die Betroffenen ans Licht. Immer wieder forderten sie Antworten auf offene Fragen. Auch deswegen nahm der Untersuchungsausschuss des Landtags im Sommer 2021 seine Arbeit auf und tagte am 3. Dezember, fast zwei Jahre nach den Attentaten, erstmals öffentlich. „Dass der Ausschuss überhaupt zustande kam, musste von Angehörigen, Überlebenden und der Initiative 19. Februar Hanau regelrecht erkämpft werden“, sagt Newroz Duman, Sprecherin der Initiative.

Anwältin Seda Başay-Yildiz ist „fassungslos bei so viel Gleichgültigkeit“

Oft respektvoll, manchmal aber auch beschämend ist der Umgang mit den Betroffenen im Ausschuss. So wurden sie zum Beispiel einerseits als Erste gehört, ausführlich. Andererseits bekamen sie nicht von allen die gebotene Aufmerksamkeit. „Ich habe Emiş Gürbüz dort begleitet, die ihren Sohn bei dem rassistischen Anschlag in Hanau verloren hat. Es war sehr emotional“, erinnert sich die Rechtsanwältin Seda Başay-Yildiz, die die Familie Gürbüz vertritt. Doch ein Abgeordneter habe während Gürbüz' Aussagen Zeitung gelesen, ein anderer sich Kopfhörer ins Ohr gesteckt, um einen Livestream zu schauen. „Ich bin echt fassungslos bei so viel Gleichgültigkeit“, so die Anwältin.

Forensic Architecture

Die Rechercheagentur Forensic Architecture wurde 2011 von dem britisch-israelischen Architekten Eyal Weizman gegründet und hat ihren Sitz am Centre for Research Architecture, Goldsmiths, University of London. Die Recherchemethoden des Kollektivs reichen von der Nachbildung von Räumen, der Auswertung von Handyvideos, Bildern aus den sozialen Netzen und Augenzeugenberichten bis zur sekundengenauen digitalen Rekonstruktion von Tatvorgängen. Im Auftrag der Hanauer Initiative 19. Februar, dem Anwaltsteam einer Opferfamilie und des Frankfurter Kunstvereins wertete die Gruppe und deren Berliner Ableger Forensis unter anderem Videomaterial, Zeugenaussagen und Wärmebild-Aufnahmen aus, die von einem Polizeihubschrauber aus in der Tatnacht aufgenommen worden waren.

Foto: Michael Schick
Die Ausstellung „Hanau 19. Februar 2020 – Drei Jahre Erinnerung und Aufklärung“ ist bis 18. März 2023 im Hanauer Rathaus zu sehen.
Foto: Michael Schick
„Forensic Architecture/Forensis“ dokumentiert die Tatnacht und thematisiert Fehler und Versäumnisse der Polizei.
Foto: Michael Schick
Detailliert sind die Abläufe auf einem Zeitstrahl und in Videorekonstruktionen festgehalten.

Im November 2022 wurde während einer Sitzung der Feueralarm ausgelöst. Als alle den Landtag verließen, war einer der Ausgänge verschlossen. Laut Duman soll in einer Gruppe um zwei Ministeriumsmitarbeiter und einen CDU-Abgeordneten darüber gewitzelt worden sein: Man müsse hinzufügen, dass das Verschließen der Tür nicht in Absprache mit der Polizei geschehen sei, habe einer der Mitarbeiter gemeint, woraufhin gelacht worden sei. Die CDU-Fraktion und das Innenministerium wiesen entsprechende Vorwürfe zurück, machten aber keine konkreten Angaben zur Wortwahl. „Wie pietät- und respektlos muss jemand sein, sich so über meinen ermordeten Sohn lustig zu machen“, sagte Armin Kurtović nach dem Vorfall.

Vili-Viorel Păun erreichte bei seinen Notrufen niemanden

Inhaltlich stockt die Aufklärung im Untersuchungsausschuss häufig, und die regierende CDU ist fast ausschließlich darauf bedacht, Landesbehörden von jeglicher Kritik zu entlasten. Dennoch arbeitete der Ausschuss einige Aspekte deutlich heraus. Unter anderem die schlechte Betreuung und Information der Opfer-Angehörigen in der Tatnacht. Oder dass am Tatabend eingesetzte Polizist:innen weder richtig in das Notrufsystem eingearbeitet noch über die fehlende Weiterleitung für nicht angenommene Anrufe informiert waren.

Die Polizeiführung, darunter der frühere Chef des Polizeipräsidiums Südosthessen und spätere Landespolizeipräsident Roland Ullmann, will davon nichts gewusst haben. Neben der veralteten Technik gab es Personalprobleme, in der entscheidenden Zeit war nur einer von zwei Annahmeplätzen in der Polizeistation Hanau 1 besetzt. Und der später erschossene Vili-Viorel Păun erreichte bei seinen Notrufen niemanden.

Ich will keine Entschuldigung, ich will Veränderung.

Serpil Temiz Unvar, die Mutter des Anschlagsopfers Ferhat Unvar

„Besondere Bedeutung hatte die Sitzung am 18. Juli 2022, in der das gesamte Ausmaß des Notruf-Versagens an die Öffentlichkeit kam. Ullmann geriet massiv unter Druck und wurde wenige Wochen später in den vorzeitigen Ruhestand geschickt“, kommentierte die Initiative 19. Februar. Da sich das Organisationsversagen der Polizei nicht mehr habe abstreiten lassen, sei von der CDU immer wieder versucht worden, den Tod von Păun dennoch als unvermeidbar darzustellen, kritisiert Hagen Kopp, Sprecher der Initiative.

Der Ausschuss im Hessischen Landtag wird noch bis zum Sommer 2023 tagen – was für die vielen noch offenen Fragen eine kurze Zeit bedeutet. „Solange alle Verantwortlichen vor allem darum bemüht bleiben, ihr Organisationsversagen zu vertuschen, wird es keine Ruhe geben. Wer aus Fehlern lernen will, muss sie auch zugeben und aufarbeiten“, fordert die Initiative. Serpil Temiz Unvar, Mutter des getöteten Ferhat, appelliert: „Ich will keine Entschuldigung, ich will Veränderung.“

Das sagen die Behörden

Alle beteiligten Institutionen haben Kritik auf Anfrage zurückgewiesen. So teilte der Generalbundesanwalt (GBA) mit, bei den umfassenden Ermittlungen seien zum Beispiel 400 Zeug:innen vernommen und mehrere hundert Asservate untersucht worden.

Auch die Rolle des Vaters sei intensiv beleuchtet worden. Es hätten sich keine Verdachtsmomente dafür ergeben, dass er „in irgendeiner Weise an den Tötungen beteiligt“ gewesen sei, im Vorfeld davon gewusst oder die Taten für möglich gehalten und diese befördert habe.

Auch widerspricht der GBA ebenso wie die Staatsanwaltschaft Hanau der Kritik, sie hätten nach verschwörungstheoretischen Anzeigen, die ihnen der Attentäter Ende 2019 schickte, handeln müssen. Die Inhalte hätten kein Ermittlungsverfahren gerechtfertigt.

Die Staatsanwaltschaft verteidigt ihre Ermittlungen zum verschlossenen Notausgang in der Arena Bar, die sie mangels hin- reichendem Tatverdacht einstellte. Zu den Gründen zählten „widersprüchliche Zeugenaussagen“. Es sei nicht sicher, ob die Fluchttür am 19. Februar 2020 geschlossen gewesen sei. Dafür, dass der Wirt den Notausgang auf Anordnung der Polizei verschlossen habe, damit diese es bei Razzien leichter hatte, gebe es keine Belege.

Das für Hanau zuständige Polizeipräsidium Südosthessen weist den Vorwurf des Racial Profiling im Stadtteil Kesselstadt zurück. Die Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger sei oberste Prämisse der hessischen Polizei und Ausdruck polizeilichen Selbstverständnisses. Die Strategie, Planung und Durchführung von Kontrollmaßnahmen richte sich in der hessischen Polizei an bestimmten Örtlichkeiten und Kriminalitätsphänomenen aus und nicht an bestimmten Personengruppen. 

Auch der Notausgang in der Arena-Bar sei nicht auf Anordnung der Polizei verschlossen worden. Ein Beamter habe, im Gegenteil, nach einer Kontrolle vor dem Anschlag auf diesen Missstand hingewiesen. Die hessische Polizei würde niemals Anweisungen erteilen, die den Gesetzen zuwiderliefen.

Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens betreffend den Vorwurf der Nichterreichbarkeit des polizeilichen Notrufs wurde auch von der Staatsanwaltschaft Hanau abgelehnt. Es habe sich kein Anfangsverdacht für eine Straftat ergeben.

Zur Notausgangstür meint die Stadt, zuständig und dafür verantwortlich sei in erster Linie der Betreiber. Nachdem bei drei Kontrollen eine verschlossene Fluchttür festgestellt worden sei, habe die Stadt immer ordnungsgemäß reagiert. Schließlich habe sie dem Wirt aufgrund zahlreicher Verstöße, darunter illegal aufgestellten Automaten, das Führen von Gaststätten untersagt. gha/yec

Die Menschen

Die Angehörigen kämpfen um eine restlose Aufklärung aller Umstände des Anschlags.

„Es war ein Segen, dass ich ein Kind bekommen habe. Ich weiß nicht, wie es mir sonst gehen würde“, sagt Kim Schröder. „Ich versuche, für meinen Sohn so stabil wie möglich zu sein. Es ist gut, dass ich stark sein muss.“

Drei Jahre sind seit dem Anschlag vergangen. Es gehe ihr inzwischen etwas besser, sie schlafe aber nach wie vor meistens erst weit nach Mitternacht ein, habe oft Alpträume und kaum Appetit. „Es wird mich mein Leben lang begleiten.“ Auch bei ihrer Mutter hat der 19. Februar 2020 tiefe Spuren hinterlassen. „Wenn sie mich zum Beispiel anruft und ich einmal nicht rangehe, macht sie sich sofort Sorgen.“

Manchmal zieht mich der Blick zurück runter. Irgendwann, in einigen Jahren, werde ich vielleicht gestärkt daraus hervorgehen. Wer weiß, wie lange es dauert. So ein Trauma ist kein Handbruch, bei dem man relativ genau sagen kann, wann er verheilt ist.

Kim Schröder

Kim Schröder hat alles noch genau vor Augen: Wie sie den Kugeln auswich, um ihr Kind und sich zu retten. Wie sie hinter die Theke sprang und aus Angst den Atem anhielt. Wie sie etwas später durch ein kleines Fenster flüchtete und sich in einem Gebüsch versteckte. Und wie sie vergeblich um Hilfe rief und versuchte, Autos anzuhalten.

Kürzlich sagte Schröder im Untersuchungsausschuss des Landtags aus. Teilweise habe es sich dort angefühlt, als wäre sie kein Opfer, sondern müsse sich verteidigen, kritisiert sie. Etwa als es darum ging, dass sie den Beamten aus dem Polizeiauto, das sie angehalten hatte, keine strukturierten Informationen gegeben, sondern geschrien habe. „Ich war in einer Ausnahmesituation, habe aber das Wichtigste mitgeteilt. Es wäre doch ihre Aufgabe gewesen, mich zu beruhigen.“ Sie bleibt bei ihrer Kritik, die die Polizisten im Ausschuss zurückgewiesen hatten: Sie seien nicht orientiert gewesen und relativ spät in die Bar reingegangen.

Foto: Michael Schick
Kim Schröder fühlte sich im Untersuchungsausschuss des Landtages teilweise, als wäre sie kein Opfer, sondern müsse sich verteidigen.

Der Tod ihrer Freundin Mercedes Kierpacz schmerzt Kim Schröder besonders. Es habe sie innerlich zerrissen, die Mutter zweier Kinder so still und regungslos am Bodes des Kiosks liegen zu sehen, voller Blut. „Mercedes hat immer für gute Stimmung gesorgt, auch wenn wir mal einen schlechten Tag hatten. Sie war temperamentvoll und warmherzig.“

Auf Bildern in den Räumen der Initiative 19. Februar sind deren zentrale Anliegen „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“ zu lesen. Auch Kim Schröder bringt sich gelegentlich ein, braucht aber einen gewissen Abstand. „Manchmal zieht mich der Blick zurück runter. Irgendwann, in einigen Jahren, werde ich vielleicht gestärkt daraus hervorgehen. Wer weiß, wie lange es dauert. So ein Trauma ist kein Handbruch, bei dem man relativ genau sagen kann, wann er verheilt ist.“

Said Etris Hashemi hat nach seiner schweren Schussverletzung schon eine ganze Reihe von Operationen hinter sich – und weitere vor sich. „Was die OPs angeht, mache ich gerade eine Pause. Ich habe erst einmal genug davon.“ Er studiert Wirtschaftsinformatik, hat aber ein Urlaubssemester eingelegt, weil er im Kampf für Konsequenzen aus der Tat viel unterwegs ist. Er sei ein sehr strukturierter Mensch, der für die Zukunft plane. Doch seit dem Anschlag komme oft etwas dazwischen. Wie es ihm drei Jahre danach geht? „Ich bin nach wie vor mittendrin, bin viel mit Aufklärung beschäftigt“, antwortet Hashemi.

Foto: Michael Schick
Said Etris Hashemi musste mit ansehen, wie sein Bruder starb.

Er tut es auch und vor allem für Said Nesar. An jenem Abend sah er, wie sein kleiner Bruder erschossen wurde. Es gibt keine Worte dafür. Said Etris denkt immer wieder an Said Nesar, mit dem er sich von klein auf das Zimmer geteilt hat. Er ist ein Teil von ihm. Wenige Sekunden nach den Schüssen machte sein Freund Momo Said Etris Hashemi darauf aufmerksam, dass er am Hals blutet. In jenen Momenten sei er sich zu 100 Prozent sicher gewesen, dass er sterben würde, hat Hashemi einmal gesagt.

Aber er stand auf und schaffte es in den Rettungswagen. Obwohl er schwer verletzt war und stark blutete, soll Said Etris Hashemi von einem Polizisten aufgefordert worden sein, seinen Ausweis zu zeigen. Wie bei einer der vielen Kontrollen und Razzien in den Jahren zuvor. Er hat das öffentlich und mit deutlichen Worten kritisiert.

Egal, wo ich bin, ob beim Bundeskanzler in Berlin oder an einem anderen Ort: Am Ende des Tages lande ich wieder in Kesselstadt, bei den Jungs.

Said Etris Hashemi

Said Etris Hashemi erhebt immer wieder seine Stimme, auch zu den Ermittlungen. Er wies unter anderem darauf hin, dass er schon kurz nach dem Anschlag in einer Vernehmung ausführlich über die verschlossene Fluchttür in der Arena Bar gesprochen hatte - und dass diese Aussage dennoch nicht ins Protokoll aufgenommen wurde. „Ich habe erzählt, dass wir nicht in diese Richtung gelaufen sind, weil der Notausgang verschlossen war.“

Von der bisherigen Aufarbeitung ist er enttäuscht, gibt aber nicht auf: „Es muss weitergehen.“ Deshalb fährt Said Etris Hashemi durch ganz Deutschland, erinnert und kämpft. „Und egal, wo ich bin, ob beim Bundeskanzler in Berlin oder an einem anderen Ort: Am Ende des Tages lande ich wieder in Kesselstadt, bei den Jungs.“

Serpil Temiz Unvar sitzt in den Räumen der von ihr gegründeten und nach ihrem Sohn benannten, antirassistischen Bildungsinitiative. Sein Gesicht ist auf vielen Bildern und Fotos zu sehen. Eine große Collage vereint kurze Briefe an Ferhat, auf einem steht: „Wir bleiben laut! Das verspreche ich dir!“ Unvar sagt: „Wir versuchen, hier etwas Gutes für die Zukunft unserer Gesellschaft zu bauen. Die Arbeit gibt mir Kraft, genauso wie die Jugendlichen, die sich hier einsetzen.“

Foto: Michael Schick
Serpil Temiz Unvar verlor ihren Sohn Ferhat.

Manchmal fühle sie sich jedoch hilflos, besonders in der Zeit kurz vor dem Jahrestag. „Nicht mal 20 Tage hat Ferhat noch Zeit“, sagt die Mutter während des Interviews, das am 1. Februar geführt wird. Es sei für sie, als würde sie die Zeit vor dem Attentat – zum Beispiel, wie Ferhat seine Abschlussprüfungen bestand und seine Freizeit genoss – und den Mord noch einmal erleben. Als würde Ferhat noch einmal erschossen werden. Vergangenes Jahr „habe ich Schlaftabletten genommen, um wenigstens ein paar Stunden zu schlafen und in der Zeit des Anschlags nicht wach zu sein. Ich kann es nicht ertragen“.

Die Erinnerungen haben sich auch in ihr Gedächtnis gebrannt. Ferhat Unvar war an dem Abend der Tat besonders wegen Gökhan Gültekin in den Kiosk gekommen, Gültekin war so etwas wie ein großer Bruder, mit dem er sich austauschte. Die Atmosphäre war entspannt. Er freute sich, nach der Prüfung ein paar Wochen einfach nur zu chillen, wie er Freund:innen gesagt hatte. Serpil Temiz Unvar sieht alles noch vor sich: Wie sie am Abend 19. Februar 2020 zum Kiosk lief und nicht reingelassen wurde. Wie sie ein Foto von Ferhat zeigte und ein Polizist sagte, so einen habe er dort nicht gesehen. Doch quälende Stunden später stand ihr Sohn auf der Liste der Ermordeten, die ein Beamter vor den Angehörigen in einer Trainingshalle der Polizei verlas. In einer Halle, in der Zielscheiben standen, auf die mit Farbmunition geschossen wird. Unvar konnte es zunächst kaum glauben. Ferhat sei so stark gewesen, als könnte nichts ihm etwas anhaben.

Ja, ich will nicht, dass der Vater des Attentäters ein Teil unseres Lebens ist. Aber warum soll ich gehen?

Serpil Temiz Unvar

Sorge bereitet ihr jetzt vor allem, dass der Vater des Attentäters weiterhin die Nähe ihres Hauses und der Schule ihres jüngsten Sohnes suche. Mit seinem Schäferhund läuft er dort am Zaun vorbei. „Er macht Grundschulkindern Angst – und das in einer ganz wichtigen Phase ihrer Entwicklung.“ Einige Eltern ließen ihre Kinder manchmal Zuhause und überlegten wegzuziehen, „obwohl es hier ansonsten sicher ist. Ich habe mich nie gefürchtet, auch spätabends nicht“. Andere erlauben ihrem älteren Nachwuchs, wenn es dunkel ist, nicht mehr, in den offenen Treff des Jugendzentrums zu gehen.

Der Vater des Attentäters sei gefährlich: „Er ist nach wie vor aktiv, hat dieselben rassistischen Ansichten und setzt den Terror seines Sohnes, der ihn glücklich machen wollte, auf seine Art fort. Dass er gar nichts von dem Anschlag wusste, glaube ich nicht. Seit 2020 warnen wir davor, dass er eine tickende Zeitbombe ist.“

Ein Polizist habe sie mal gefragt, warum sie nicht wegziehe, erzählt Unvar. „Ja, ich will nicht, dass der Vater des Attentäters ein Teil unseres Lebens ist. Aber warum soll ich gehen?“, fragt sie fassungslos. Manche Hinterbliebene wollten einen klaren Schnitt, eine neue Umgebung. Bei ihr sei das anders. Das Haus erinnere sie an Ferhat. Manchmal sei es so, als wäre er noch da, ein bisschen jedenfalls. „Ferhat liebte Kesselstadt, ich auch. Hier leben viele verschiedene Nationalitäten und Religionen, und wir kommen sehr gut miteinander klar. Ich will weiter hier leben. Mit Ferhat.“