Die Rosenbergs

Unsere Autorin Tania Kibermanis hat Menschen getroffen, in deren Familientradition es seit Jahrhunderten liegt, in Wohnwagen umherzureisen. Die Sinti-Familie Rosenberg ist längst in Deutschland sesshaft geworden. Sie leben schon länger in Hamburg als die Autorin – und doch werden sie von vielen als „die Anderen“ wahrgenommen.

Dafür, dass die Sinti und Roma in einigen Punkten anders leben als die Mehrheit, weil manche von ihnen Wahrsagerinnen und Musiker sind oder im Wohnwagen leben, werden sie diskriminiert. Die Rosenbergs und ihre Vorfahren wurden in den Konzentrationslagern der Nazis gequält und getötet, sie werden bis heute als „Zigeuner“ angefeindet.

„Alles, was von erstrebenswert verwegen bis verächtlich unseriös erscheint, wird dieser Gruppe zugeordnet – vom Autodiebstahl bis zur Hexerei“, schreibt Tania Kibermanis. „Völlig schizophren ist, dass hippe, junge Menschen unter großem Applaus auf Reiseblogs das Loblied des modernen Nomadentums singen, während die Schwärmerei in finsteres Grummeln umschlägt, sobald Sinti und Roma das Gleiche tun.“

Tania Kibermanis klopfte vor vielen Jahren bei ihren Nachbarn an die Tür. Und blieb bis in die Nacht. Tornado, Mama Blume und Baby Rosenberg wurden ihre Freunde. Diese besondere Geschichte hat sie für FR7, das Wochenendmagazin der Frankfurter Rundschau, aufgeschrieben.

Mama Blume öffnete mir die Tür, schaute mich kurz an und lächelte: „Das ist scheen, du bist ja auch eine von uns. Du hast ein warmes Herz.“

Tania Kibermanis

Eigentlich sollte ich nur ein kurzes Porträt über Mama Blume, die Wahrsagerin vom Hamburger Dom, schreiben. Ein kleiner, netter Job, nichts weiter. Dass mir dieser matschtrübe Wintertag vor sieben Jahren so etwas wie eine Zweitfamilie bescheren würde – damit hätte ich nie im Leben gerechnet.

Ich vereinbarte mit ihrer Tochter Esmeralda einen Termin, um die beiden in ihrer Wohnung zu besuchen. Eine winzige, vom Alter schon ein bisschen windschiefe Dame mit tadellos gelegten Locken und kleinen, schlauen Augen öffnete mir die Tür, schaute mich kurz an und lächelte; „Das ist scheen, du bist ja auch eine von uns. Du hast ein warmes Herz.“ Das war der erste Satz, den sie zu mir sagte, mit ihrer rauen Stimme und dem heimeligen schlesischen Akzent.

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Mama Blume, Wahrsagerin am Hamburger Dom.

Ich dachte noch: Wahrscheinlich sagt sie das zu jedem. Und nahm es einfach als freundliches Entrée. Ich weiß nicht, wie lange wir zu dritt in Mama Blumes blitzblanker, völlig überheizter Küche gesessen haben. Wir haben geredet, zusammen gegessen, weitergeredet. Über ihre Familie, ihre Zeit im KZ, über den lieben Gott und über „Zigeuner“-Küche. Und uns sofort vollkommen barrierefrei gegenseitig ins Herz geschlossen. Spät nachts kam ich ganz beglückt nach Hause. Und seitdem gibt es die Rosenbergs in meinem Leben.

Von da an war ich oft bei Mama Blume. Manchmal besuchte ich sie auch auf dem Hamburger Dom. Gemeinsam mit Esmeralda, die in der Familie nur „Baby“ genannt wird, weil sie das jüngste der sechs Rosenberg-Kinder ist, legte sie dort in einem muckelig warmen Wagen den Jahrmarktsbesuchern die Karten oder las aus der Hand. Meistens durfte ich dabeisitzen und zuhören, wenn es die Kunden nicht störte. Mama Blume war weit davon entfernt, den Leuten Honig um den Bart zu schmieren oder windelweiche Trifft-ja-irgendwie-immer-Voraussagen zu machen – manchmal donnerte sie empört raus: „Hör auf zu saufen, sonst wird dich deine Frau verlassen!“ oder „Dein Beruf ist nichts für dich, damit machst du dich nur kaputt. Aber du wirst noch dieses Jahr was anderes finden!“ Auch mir hat sie ein paarmal die Karten gelegt. Dinge prophezeit, die mir ganz unglaublich schienen. Und sie hat immer Recht behalten.

„Uns Sinti gibt es nicht alleine“

„Uns Sinti gibt es nicht alleine“, hatte mir Baby irgendwann mal gesagt. Stimmt. Immer, wenn ich bei Rosenbergs zu Besuch bin, kommt spätestens nach zehn Minuten jemand aus der Familie vorbei, bleibt auf einen Kaffee, spielt vielleicht ein neues Stück auf seiner Gitarre vor. Immer wieder klingelt das Telefon, Neuigkeiten werden ausgetauscht – „unsere Rauchzeichen“, wie Baby das nennt. Enkelkinder toben durch die Wohnung, dazwischen wuselt ein kleiner Hund. Und egal, um welche Uhrzeit ich auch vorbeischaue, immer köchelt in einem riesigen Topf irgendein stark fleischhaltiges Essen, falls vielleicht jemand auf der Matte steht, der noch Hunger hat. Immer ist noch Platz und ein Moment Zeit für einen, der gerade etwas braucht.

Familienfeiern sind immens wichtig. Da kommen alle zusammen, die ansonsten quer über Europa verstreut leben. Für mich sind diese Festivitäten allerdings eine ähnlich große Herausforderung wie ein Memoryspiel in der Profi–Edition: Wer war das gleich nochmal? Welche Kinder, Enkel und Urenkel gehören zu wem? Nach Jahren harten Trainings kann ich schätzungsweise 50 Prozent der Familie richtig benennen und korrekt zuordnen. Natürlich wird Musik gemacht und getanzt. Und zwar alle zusammen. Wer sich noch oder schon wackelfrei auf den Beinen halten kann, tanzt mit hinreißender Grazie – egal, ob er schon 90 oder erst zwei Jahre alt ist. Meist biegt sich der Tisch unter kunstvoll dekorierten Torten und beeindruckenden Fleischplatten. Die Älteren werden selbstverständlich von den Kindern und Enkeln bedient, und ausnahmslos alle schmeißen sich derart in Schale, dass der Wiener Opernball dagegen aussähe wie eine Versammlung trauriger Jogginghosen.

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Wolkly, seine Schwester Lydia, sein Sohn Marcello, seine Frau Röslein, in der Mitte Mama Blume, davor Baby (von links), aufgenommen Ende der 90er Jahre.

Die wenigsten Menschen kennen Sinti näher, aber ausnahmslos alle haben eine Meinung über sie. Dabei leben die Sinti seit mehr als 600 Jahren in Deutschland – viel länger als mancher vermeintliche Ureinwohner, der sich mit seinem Stammbaum dicke tut. Natürlich sind Sinti auch Deutsche – so deutsch, wie es Bayern, Kölner oder Ostfriesen ebenso sind. Aber wenn einer von seiner Kultur erzählt, den Bräuchen, dem Essen und seiner Sprache, in der er träumt und schimpft, dann wird er meistens zuerst Bayer, Kölner oder Ostfriese sein – und danach erst Deutscher. Bei den Sinti ist es ganz genauso. Und die Rosenbergs sind dazu noch allesamt Hamburger Jungs und Deerns.

Die allermeisten Sinti sind unauffällige Arbeitnehmer und Steuerzahler, und natürlich gehen ihre Kinder zur Schule. Ich finde es übrigens fürchterlich, dass ich das überhaupt schreiben muss. Dass Sinti mit der lebenslänglichen Rechtfertigungspflicht gestraft sind, ständig beweisen zu müssen, dass sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen, wenn sie wenig Geld haben. Und keine Mafiosi sind, wenn sie viel haben. Und wenn sie es zu Ruhm und Ansehen bringen, dann oft genug obwohl, und nicht weil sie Sinti sind. So wie beispielsweise Ron Wood von den Stones, die Schauspieler Yul Brynner, Michael Caine und Rita Hayworth, die Fußballer Ricardo Quaresma und Zlatan Ibrahimovic und die Sängerin Marianne Rosenberg, die zum Berliner Familienzweig gehört.

Wenn man an die ekelhaften NPD-Wahlplakate denkt, dann kann auch ein durchaus korrektes „Sinti und Roma“ diskriminierend sein.

Wolkly, der sich die hübsche Berufsbezeichnung „Gastronaut“ erfunden hat, betrieb viele Jahre die „Gamasche“, eine Hamburger Musikkneipe, in der er selbst, sein Bruder Tornado und viele namhafte Künstler auftraten. Und bis heute gastiert er – gemeinsam mit seiner Frau Röslein und seinen Söhnen Ramon, Blondel und Marcello – als Veranstalter mit seinem Gypsy Village, einer mobilen Kulturveranstaltung mit Musik- und Tanzshow, Wahrsagezelt und kulinarischen Spezialitäten, auf Festen quer durch die Republik. Meist steht dabei auch sein Bruder Tornado auf der Bühne, von dem seine Mutter immer sagte: „Er heißt so, weil er schon als Kind Gitarre gespielt hat wie ein Tornado.“

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Wolkly und sein Sohn Ramon in den 80er Jahren.
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Tornado bei einem Auftritt; im Hintergrund Django Reinhardt, der wohl berühmteste Sinti-Musiker.

Die „Zigeunernamen“, die man meist schon als Kind von seinen Eltern oder Großeltern bekommt, sind etwas Wunderbares, denn sie beschreiben das Wesen und die Besonderheit eines Menschen so viel liebevoller und treffender als der offizielle Name, der im Ausweis steht. Mein Freund Wolkly ist 1946 geboren, „als die dunklen Wolken des Krieges und der Verfolgung endlich vorübergezogen waren“, wie er erzählt. Und Baby ist – obwohl inzwischen auch schon Mitte 50 – immer noch so lieb und bezaubernd verspielt wie ein kleines Mädchen. „Zigeunernamen“ sind auch Ehrentitel, so wie der Vater meiner Freunde, Lani Rosenberg, voller Hochachtung „Goldschabi“ genannt wurde: der Goldjunge. Und sie sind Erinnerung und Würdigung von Verwandten, die in den KZ umgebracht wurden – damit deren Namen in der Familie nicht verlorengehen.

Wolkly und Tornado Rosenberg: Swing Gypsy Rose, Auftritt in Planten un Blomen Hamburg 2016
Quelle: Oliver Terjung/Youtube

In Deutschland leben heute schätzungsweise 120.000 Sinti und Roma, zirka 70.000 davon haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Die deutschen Sinti sind eine von vielen Gruppen in Europa: Da gibt es noch die ungarischen und polnischen Lovara, deren Name sich vom Pferdehandel herleitet, russische, die spanischen Kalé und die französischen Manouche. Und das sind längst noch nicht alle.

Sinti

Die Sinti sind die seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland, Holland und Belgien beheimateten Angehörigen der Minderheit. Als Roma bezeichnet man in Deutschland diejenigen, die in Ost- und Südosteuropa zu Hause sind. Der Begriff „Zigeuner“ hat übrigens nichts mit ziehenden Gaunern zu tun, sondern leitet sich vielmehr vom griechischen Wort „Athinganoi“ ab, was so viel wie „Unberührbare“ bedeutet.

Rom bedeutet Mensch, und Roma ist die internationale Benennung für die gesamte, vor etwa 1000 Jahren aus Nordindien eingewanderte, transnationale Minderheit, die zwar kein eigenes Land, aber eine eigene Flagge, eine eigene Hymne und einen eigenen Feiertag (8. April) hat. Auf ihrer jahrhundertelangen Reise nach Europa sollen sie auch durch Persien und Ägypten gekommen sein – daher stammt wohl die Bezeichnung Gypsies.

Was erstmal unübersichtlich klingt, ist im Grunde ganz einfach: Es gibt die eigene Kultur, die Sprache, die auch immer sehr von der Sprache des Heimatlandes beeinflusst ist, die jeweiligen Besonderheiten. Und dann natürlich das Land, in dem man zu Hause ist, dessen Sprache man außerhalb der Familie spricht. In Deutschland ist man also Sinto oder Sinteza. Und deutsch natürlich sowieso. Aber vielleicht ist man auch Lovara und trotzdem deutsch. Oder hat Eltern, von denen einer Sinto und der andere Kelderasch ist. Da überrascht es nicht, dass man sich auf einen einfachen Nenner einigt, der alle einschließt – und sich dann eben „Zigeuner“ oder „Gypsy“ nennt. Einige tun das, andere lehnen es strikt ab. „Der Ton macht die Musik“, sagen die Rosenbergs. Denn wenn man an die ekelhaften NPD-Wahlplakate denkt, dann kann man genauso gut auch mit einem durchaus korrekten „Sinti und Roma“ problemlos diskriminierend sein.

Darf man denn nun „Zigeuner“ sagen?

Äh... nein. Erstens möchte man nicht plötzlich Leute wie Peter Hahne zum Kumpel haben, die wie bocksture Vierjährige darauf beharren, dass ihre gesamte Lebensqualität dahin sei, wenn sie kein „Zigeunerschnitzel“ und danach keinen „Negerkuss“ mehr bestellen dürften. Es zeigt vor allem deutlich, dass die Mehrheitsgesellschaft weiterhin definiert, dass sich die Minderheiten doch bitteschön nicht diskriminiert zu fühlen haben, da sollen sie sich halt nicht so anstellen. „Zigeuner“ bedeutet im alltäglichen Sprachgebrauch zumeist auch gar nicht die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, sondern zu einer sozialen Schicht – arm, dreckig, kriminell. Und wer dazu noch Bulgare oder Rumäne ist, ist für die meisten Menschen sowieso schon gleich „Zigeuner“. Wofür dieser Begriff immer wieder herhalten muss! Alles, was von erstrebenswert verwegen bis verächtlich unseriös erscheint, wird ihnen zugeordnet – vom Autodiebstahl bis zur Hexerei. Vollkommen schizophren ist auch, dass hippe, junge Menschen unter großem Applaus auf unzähligen Reiseblogs das Loblied des modernen Nomadentums singen, sich dabei sogar noch „Digital Gypsies“ nennen und mit ihrem Laptop von Mumbai bis Manila in abenteuerlichsten Verkehrsmitteln posieren, während die Schwärmerei für diesen mobilen Lebensstil sofort in finsteres Grummeln umschlägt, sobald Sinti und Roma exakt das Gleiche tun: Unterwegs sein und dabei Geld verdienen.

„Gypsy“ ist inzwischen längst eine Marke – ob bunte, freizügige Kleider im Onlineshop oder das Faschingskostüm mit klimpernden Ohrringen und Wallehaarperücke – ein bisschen „Zigeuner“ ist chic. Aber doch bitteschön nur, wenn man selbst keiner ist. Mich regt das auf. Meine Freundin Baby dagegen bleibt ganz gelassen: „Ist doch schön! Ich bin stolz darauf, eine waschechte Sinteza zu sein!“ Und ich kann ihr ja schlecht entgegnen: „Hey, du musst dich jetzt aber unbedingt von diesem Scheiß diskriminiert fühlen!“

„Weißt du, was mir Leute zuallererst sagen, wenn sie hören, dass ich Sinto bin?“, fragt Wolkly. „Ist doch nicht schlimm – sind doch auch Menschen!“

Einige Schwarze mögen sich auch gegenseitig „N...“ nennen – das gibt mir noch lange nicht das Recht, das ebenfalls zu tun. Obwohl sich manche Sinti zwar selbst als „Zigeuner“ bezeichnen, würde ich sie aber immer zuerst fragen, wie sie denn von mir genannt werden wollen. „Weißt du, was mir Leute zuallererst sagen, wenn sie hören, dass ich Sinto bin?“, fragt Wolkly. „Ist doch nicht schlimm – sind doch auch Menschen!“ Dass es in ausnahmslos jeder Volksgruppe auch ausgemachte Arschlöcher gibt – darüber müssen wir nicht reden. Aber dass man ganz sicher nicht qua ethnischer Zugehörigkeit automatisch eines ist, hoffentlich auch nicht.

Mama Blume erzählte viel vom KZ. Manchmal ganz beiläufig, wenn sie mir sagte, dass ihr die SS das tadellose Hemdenbügeln beigebracht habe, um dann im nächsten Satz wieder bei einem ganz anderen Thema zu landen. Aber genauso gut gab es auch die dunklen Tage, an denen sie von nichts anderem sprechen konnte. Von ihrem Cousin, der einen Buckel hatte, sich vor der SS zu deren Belustigung nackt ausziehen musste, dann sollte er in ein angrenzendes Feld rennen und wurde dort von den Hunden dieser Verbrecher zerfleischt. Manchmal zeigte sie mir ein ganz abgegriffenes Foto von ihm.

Ihre Mutter hatte Lagertyphus und wurde von einem Arzt totgespritzt. Mama Blume selbst behielt ein gehörloses Ohr von einer Ohrfeige gegen eine Wand und eine zertrümmerte Schulter von einem Gewehrkolben, Rheuma von der jahrelangen Mangelernährung, Ich weiß nicht was noch. Von den Alpträumen, der SS, die nachts an ihrem Bett stand, wenn sie Morphium gegen ihre Schmerzen bekommen hatte, gar nicht zu reden.

Und ich hätte sie so gerne getröstet, dieses kleine, wunderbare Persönchen, das ausgerechnet mich in ihr Leben gelassen hatte, obwohl ich bis heute nicht beschwören kann, dass nicht einer meiner Vorfahren ihrer Familie vielleicht etwas Schreckliches angetan hat.

Jede Sinti-Familie in Deutschland kennt die Geschichte von der „Loli Tschai“, der „roten Frau“.

Wir hatten von Anfang an ein grenzenloses Vertrauen zueinander. Was alles andere als selbstverständlich ist, wenn man sich mal vor Augen führt, was Gadje (Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, vergleichbar mit den Goi, den Nicht-Juden) im Leben der Sinti und Roma alles angerichtet haben. Jede Sinti-Familie in Deutschland kennt die Geschichte von der „Loli Tschai“, der „roten Frau“, wie die rothaarige Eva Justin von den Sinti genannt wurde. Sie sprach Romanes und hatte sich vorgenommen, in der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ der Nazis Karriere zu machen und zwar anhand einer mehr als widerwärtigen „Zigeunerforschung“.

Mit Robert Ritter, der dieses zweifelhafte Institut in enger Zusammenarbeit mit der Polizei leitete, zog sie durch die Lande, erwarb sich mit ihren Sprachkenntnissen schnell das Vertrauen der Leute, fragte sie aus, vermaß Nasenlängen und Augenabstände und wollte damit belegen, dass die „Zigeuner“ ja schon qua Genetik Verbrecher seien. Den Kindern wurde der Schulbesuch verweigert, ihren Eltern die Erlaubnis für ihre Gewerbe entzogen, was einen völligen Zusammenbruch ihres Lebensunterhaltes bedeutete.

Dabei leisteten die Sinti und Roma jahrhundertelang einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit mobilem Handwerk und Kulturprogramm wie Musik, Wanderkino und Puppentheater. All diese Schikanen führten direkt in den Holocaust, den die Sinti und Roma „Porajmos“ nennen, den Völkermord an ihren eigenen Leuten. Es gibt keine Familie, die davon verschont geblieben ist. Keine.

„Die Zigeuner neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität (..), es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen, wie primitiven Urmenschen, ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“

Aus dem Urteil des Bundesgerichtshof von 1956

Und die Diskriminierung ging nahtlos weiter. Die Behörden und Länderpolizeien übernahmen nach 1945 die von den Nazis zusammengetragenen Informationen und legten sogenannte „Landfahrerzentralen“ an, mit deren Karteien die Sinti und Roma weiterhin bis Anfang der 80er Jahre völlig legal diskriminiert werden durften.“ 1956 unterteilte der Bundesgerichtshof: „Die Zigeuner neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität (..), es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen, wie primitiven Urmenschen, ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“ Mit diesem skandalösen Urteil wurde jede Form von Entschädigung abgebügelt – schließlich waren die Sinti und Roma nach dieser Logik keine rassisch Verfolgten, sondern gewöhnliche Kriminelle.

Tornado hat über die Geschichte seiner Eltern ein Buch geschrieben, „Mama Blume – vom Glück im Leben“, in dem er erzählt: „Unser Vater kämpfte für sein Recht auf Entschädigung, doch jedes Mal, wenn es zum Gerichtstermin kam, hieß es: ‚Beweisen Sie uns, Herr Rosenberg, dass Sie überhaupt im KZ waren.‘ Natürlich konnte er es beweisen. Es gab ja die Deportationslisten und Zeitzeugen. Geglaubt hat man den KZ-Opfern trotzdem nicht.“ Tornado kämpfte und war federführend daran beteiligt, dass die abscheulichen „Landfahrerkarteien“ endlich aus den Behörden verschwanden. Ostern 1980 beteiligte er sich gemeinsam mit Romani Rose und einigen anderen Sinti und Roma an dem Hungerstreik im ehemaligen KZ Dachau, um auf die Diskriminierung der Minderheit aufmerksam zu machen. Und 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Völkermord endlich an – 37 Jahre nach Kriegsende. Als dann zögerlich die ersten Entschädigungszahlungen verhandelt wurden, waren viele der KZ-Überlebenden schon gestorben.

Manchmal wurden die Rosenbergs gefragt: „Was macht ihr denn noch hier, wenn die Deutschen euch doch so schlecht behandelt haben?! Die Antwort lautete: ,Wo sollen wir denn hingehen? Wir sind doch in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert zu Hause.“

Lani Rosenberg, dessen Familie seit Jahrhunderten in Deutschland gelebt hatte, war 1945 in seinem Pass plötzlich staatenlos. Mitte der 60er Jahre bekam er die deutsche Staatsbürgerschaft zurück – für drei Jahre auf Probe. Ich habe dieses Dokument fassungslos angestarrt und konnte es nicht glauben. Genauso wenig, dass Mama Blume eine Entschädigungsrente von lächerlichen 40 Euro bekam. Die Rosenbergs hätten allen Grund gehabt, die Deutschen aufrichtig zu hassen. Stattdessen habe ich selten so höfliche Menschen erlebt, die keinen Ärger haben wollen und meist auch keinen machen – auch dann nicht, wenn sie von Behörden, Vermietern oder der Polizei weiterhin schikaniert wurden.

Tornado schreibt in seinem Buch: „Nach Kriegsende kamen meine Eltern nach Hamburg und haben einige Jahre im Wohnwagen gelebt, den mein Vater selbst gebaut hatte. Manchmal wurden sie gefragt: ‚Was macht ihr denn noch hier, wenn die Deutschen euch doch so schlecht behandelt haben?! Die Antwort meines Vaters lautete: ,Wo sollen wir denn hingehen? Wir sind doch in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert zu Hause.‘“

FR7

Dieser Text erschien in FR7, dem Wochenend-Magazin der Frankfurter Rundschau. Sie möchten mehr Artikel wie diesen lesen? Hier geht's zum Abo.

Ich hätte das Zusammenleben von Sinti und Deutschen gerne vor der Nazizeit erlebt. Viele Sinti nahmen als Patrioten am Ersten Weltkrieg teil, erhielten das Eiserne Kreuz. Waren Teil der deutschen Gesellschaft, Staatsangehörige, Nachbarn, Kollegen, Geschäftspartner. Und auch Freunde, Geliebte, Ehepartner. Dann hat sie das deutsche System mit all seiner Akribie verraten, verschleppt, enteignet, ermordet. Ich würde einem solchen System nie wieder trauen, und ich habe unendliche Hochachtung vor dem Großteil der Sinti, die heute trotz allem immer noch versuchen, den einzelnen Menschen zu sehen und nicht den deutschen Nazi.

Und ich habe genauso Verständnis für die, die es nicht können, nicht wollen, in jedem Deutschen einen Feind sehen. Einmal saß ich mit Mama Blume im Arztwartezimmer. Plötzlich fing sie an, laut vom KZ zu reden, obwohl wir eine Minute vorher noch über Blusen gesprochen hatten. „Sie haben uns in die Waggons gesteckt und uns behandelt wie Tiere, nein, schlimmer als Tiere!“ Sie stieß mich dabei mit dem Ellbogen an und lächelte ihr bezaubernd durchtriebenes, schelmisches Mama-Blume-Lächeln. „Guck!“, flüsterte sie mir zu. „Die war auch dabei!“ Sie deutete mit dem Kopf auf eine alte Dame, die sich gerade tief hinter ihrer Zeitung verkroch. Danach sprach sie wieder über die Vorzüge von Seidenblusen. Mama Blume konnte Nazitum riechen. Und trotzdem hat sie mit allen Menschen gesprochen, mit Skinheads in der Bahn diskutiert.

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Bürgerrechts-Demo von Sinti und Roma 1980 in Hamburg: Baby (über dem zweiten „T“ von „Solidarität“), rechts Wolkly (helles Jackett) und Tornado.

Heimat, Zuhause, Geborgenheit – all das hatten ihnen die Nazis genommen. Und umso heimeliger ist es deshalb oft bei Sintifamilien. Es ist immer warm und blitzsauber, immer gibt es mehr als genug zu essen, der Kühlschrank ist übervoll, und die Wohnungen sehen aus wie Hochzeitstorten aus Buttercreme: Schnörkelchen hier, Porzellankutsche da, alte Familienbilder an den rosa Wänden. Es ist herrlich. Und vor dem Hintergrund der erbärmlichen Zustände in den Lagern mehr als verständlich.

Aber die Gespenster ließen sich auch damit nicht vertreiben. Tornado schreibt: „Wir sahen unseren Vater manchmal weinen, wenn er alleine in der Essdiele saß. Er redete kein Wort. Erst später erfuhr ich, dass nur er und seine Schwestern das KZ überlebt hatten. Seine Eltern und alle seine Brüder kamen um. Manchmal musste ich meine Gitarre holen und sein Lieblingslied spielen: ,Mutter, ich kann dich nicht missen‘, ein holländisches Lied. Seine Mutter war in Holland geboren. Er sang es eigentlich nicht, er weinte das Lied. Ihm liefen dabei die Tränen herunter, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, außer für ihn Gitarre zu spielen.“

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Mama Blume und Lani Rosenberg, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
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Mama Blume und Lani Rosenberg, Ende der 40er Jahre.

Meine Freunde sind ohne Großeltern aufgewachsen, mit traumatisierten, aber grenzenlos liebevollen Eltern. „Sie haben uns so erzogen, dass wir ein offenes Herz für alle Menschen haben“, schreibt Tornado. „Unsere Eltern waren uns ein Vorbild. Mein Vater reichte sich mit einem deutschen Soldaten in der Kirche die Hände, und sie haben gemeinsam um Vergebung gebetet.“

Und Wolkly erzählt: „Wir waren die einzigen Sinti im Stadtteil Finkenwerder. Aber mein Vater war ein geschätzter Mann, und immer wenn andere Sinti nach Finkenwerder kamen, weil da eine große Stellfläche war, wurde zuerst mein Vater gefragt, ob die denn in Ordnung seien. Unser Vater war im Kirchengemeinderat und ein bekannter Musiker. Und ADAC-Mitglied, darauf hat er immer sehr viel Wert gelegt.“

Doch die Sinti konnten sich noch so sehr bemühen – nach wie vor gibt es diesen fürchterlichen Rassismus, der keiner anderen Gruppe in der deutschen Gesellschaft so ungebremst entgegenbrandet – teils halbherzig kaschiert und durch saublöde Bezeichnungen wie „mobile ethnische Minderheit“ mehr als dürftig verkleidet, teils offen und bösartig.

Während ich an diesem Text schreibe, wurden innerhalb von nur einer Woche das Denkmal der Sinti und Roma in Berlin geschändet, ein Brandanschlag auf einen Wagenplatz in Süddeutschland verübt und mal wieder einer Familie der Aufenthalt auf einem Campingplatz verwehrt – mit der klar formulierten Begründung, dass keine Sinti und Roma dort erlaubt seien.

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Familie Rosenberg, Ende der 60er Jahre, im Urlaub: Rechts Papa Lani, links aus der Tür schaut Mama Blume, dazwischen die sechs Rosenberg-Kinder.

Wolkly erzählt, dass er vor ein paar Jahren für den Urlaub auch einige Stellplätze auf einem Platz gebucht hatte. Als sie dann mit den Wagen vorfuhren, verweigerte ihnen der Betreiber die Zufahrt. „Mein Sohn musste den Wagen wenden und hat dabei geweint. Auf dem Campingplatz standen Gäste und haben geklatscht.“ Meine Freunde bleiben selbst dann noch ruhig, wenn ich vor fassungsloser Wut schon kurz vor der Kernschmelze bin. Weil sie es schon viel zu oft erlebt haben. Als Baby im Teenageralter mit ihren Brüdern in die Disco wollte, hieß es: „Ihr nicht – nur für Leute mit Clubkarte!“ Und es war völlig klar, was eigentlich damit gemeint war. „Als Musiker, Veranstalter und Wahrsagerinnen sind Zigeuner immer eine willkommene Unterhaltung“, sagt Baby. „Aber kaum ist die Show zu Ende, will man nichts mehr mit ihnen zu tun haben.“

Was man den Vorfahren angetan hat, ist nicht nur Geschichte. Das Unrecht setzt sich bis heute fort, mitten in Europa. Im fremdenfeindlichen Italien werden die Roma regelrecht katalogisiert und Dateien mit biometrischen Daten über sie angelegt. In Ungarn veranstalten Anhänger der rechtsextremen Jobbik-Partei gewalttätige Hetzjagden, gerne auch unter Beteiligung der örtlichen Polizei. In Frankreich und Belgien werden ganze Siedlungen abgerissen und die Bewohner der Obdachlosigkeit preisgegeben.

Die Fördergelder, die die EU bereitstellt, um die katastrophalen Lebensbedingungen der Roma in Bulgarien und Rumänien zu verbessern, versickern oft für völlig andere Projekte in den besagten Ländern, ohne dass auch nur irgendetwas davon bei den Leuten ankommen würde. Und zur Krönung wird dann behauptet: „Guckt euch die Zigeuner an! Da kriegen sie schon so viel Geld und leben immer noch wie die faulen Schweine! Die wollen es ja gar nicht anders, die kann man nicht integrieren!“ Also werden Roma weiterhin behandelt wie der letzte Dreck.

Leichter Zigeunereinschlag, besser nichts anbieten.

Interner Vermerk eines Wohnungsunternehmens in Hameln

Den Sinti in Deutschland geht es also noch vergleichsweise gut – was nicht heißt, dass sie hier nicht diskriminiert würden. Sinti werden nach Jahrzehnten von ihren Plätzen in Städten vertrieben. Zugleich wird es für sie immer schwerer, eine Wohnung zu bekommen. „Leichter Zigeunereinschlag, besser nichts anbieten“ – diesen eigentlich internen Vermerk schickte ein Wohnungsunternehmen in Hameln kürzlich versehentlich an eine Sinteza, die eine Unterkunft suchte, und offenbarte damit nicht nur die skandalöse Politik besagten Unternehmens, sondern zeigte auch, was in so vielen Köpfen spukt: Dass man „mit Zigeunern“ lieber nichts zu tun haben will.

Dabei gibt es so viel, was man von den Sinti lernen kann: Alte Menschen werden ohne Ausnahme respektiert, ein Wort für „Pflegeheim“ gibt es im Romanes gar nicht. Die Familie kümmert sich bis zum Schluss. Die Alten sind die Archive der Familien, sie vermitteln Sprache und Kultur an die jüngere Generationen, und es gilt als großes Geschenk, wenn man sie möglichst lange bei sich hat. Tornado schreibt: „Wir sind stolz auf unsere Kultur. In unserer Sprache gibt es kein Wort für Krieg. Es ist uns auch verboten, eine Waffe gegen einen anderen Menschen zu richten.“

Mama Blume brachte mir die wichtigsten Sinti-Regeln bei. Der Tisch, an dem gegessen wird, ist heilig. Man setzt sich nicht drauf, genauso wenig öffnet man dort unerfreuliche Post. Und als ich einmal im glutheißen Sommer die auf dem Balkon in der Sonne schmurgelnden Lebensmittel, die nicht mehr in den übervollen Kühlschrank passten, stattdessen in der Badewanne kühlen wollte, pfiff mich Mama Blume sofort zurück: „Da, wo sich einer seine dreckigen Füße wäscht, da kommt doch kein Essen rein, pfui!“ Hat eine gewisse Logik, und ich fing sofort an, meine heimischen Hygienebedingungen zu überdenken.

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Tornado und Baby, Ende 80er Jahre.

Ich als Gadji könnte zwar auch in Hosen zu Besuch kommen, finde es aber respektvoller, einen Rock zu tragen, wie es die Sintifrauen tun. Der auch nicht lang sein muss – Hauptsache Rock oder Kleid, das die Knie bedeckt. So wie alle Kulturen ihre Besonderheiten haben, gibt es auch bei den Sinti und Roma – je nach Heimatland – in Sachen Kleiderordnung beträchtliche Unterschiede: Die Romafrauen vom Balkan tragen durchaus Hosen, die Romnije aus Russland bevorzugen bunte Gewänder. Und die Kalé-Damen in Spanien sind oft sehr leicht anhand ihrer wallenden Flamencokleider zu identifizieren.

Ein altes Märchen besagt, dass das farbenfrohe Wallen der Kleider an frei umherflatternde Vögel erinnere. Und ich habe noch niemals auch nur eine einzige Sinteza erlebt, die sich ihrer Schönheit, ihrer Weiblichkeit nicht voll bewusst und stolz darauf war. Selbst wenn sich eine kleine Wampe unter dem Kleid spannt. Bodyshaming, Essstörungen, die dreifach verknoteten Beine und verschränkten Arme vieler Teenagermädchen sind mir hier noch nie begegnet. Die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen mag zwar eher traditionell sein, aber Sintezas sind denkbar weit davon entfernt, scheu und dienstbar vor einem Mann zu kuschen.

Die Sprache der Sinti wird mündlich in der Familie weitergegeben, es gibt keine Wörterbücher und auch keine Sprachkurse, die man als Gadje belegen könnte.

Der Grat zwischen Höflichkeit und Anmaßung ist für mich allerdings bis heute noch ein einigermaßen holpriges Terrain. Wo zeige ich meinen Respekt, wo komme ich dagegen vielleicht in den Verdacht, etwas zu imitieren, was mir gar nicht zusteht? Mama Blume hatte mir immer mal wieder ein paar Worte Romanes beigebracht. Die Sprache der Sinti wird ausschließlich mündlich in der Familie weitergegeben, es gibt keine Wörterbücher und auch keine Sprachkurse, die man als Gadje belegen könnte.

In jeder anderen Kultur würde ich, ohne zu zögern, in der Landessprache begrüßen, das Essen loben oder sonst irgendetwas Nettes sagen, wofür ich das Vokabular gerade parat habe. Auf Romanes habe ich Hemmungen. Manchmal kommt mir ein munteres „Latscho diewes!“ (Guten Tag) über die Lippen, weil es nicht so kühl-abgrenzend klingt wie „Hallo!“. Und weil wir uns auch schon lange genug kennen. Aber ich will mich eben nicht aufdrängen. Mit einem „Hallo“ rücke ich einen großen Schritt weg, mit Romanes dagegen stehe ich sprachlich direkt in einem fremden Schlafzimmer, in dem ich nichts verloren habe. Ich weiß, dass es viele Sinti gibt, die das überhaupt nicht schätzen, wenn Gadje ihre Sprache sprechen. Und wenn ich an das Trauma „Loli Tschai“ denke, dann kann ich das nur zu gut verstehen.

Es war unendlich traurig, als Mama Blume starb, aber niemand in der Familie war damit allein. Genau so geht Abschied.

Mama Blume ist im Februar gestorben. Ihre Familie war die ganze Zeit bei ihr. Und auch von dem Moment an, in dem sie diese Welt verlassen hatte, blieb sie nicht allein. Baby und ihre Nichten machten sie in ihrem Krankenhauszimmer zurecht und zogen ihr ein elegantes Kleid an. Ich stand mit Babys Sohn vor der Tür, und er zeigte mir alberne Videos, die er noch vor ein paar Wochen von seiner Oma aufgenommen hatte. Wir lachten, während uns die Tränen übers Gesicht liefen. Das Krankenhaus füllte sich nach und nach mit immer mehr Familienmitglieder, die von überall her anreisten, still auf den Gängen saßen oder leise weinten. Wir standen zusammen draußen in dieser lausig kalten Februarnacht und rauchten schweigend die riesigen Aschenbecher voll.

Drei Tage und drei Nächte lang wurde Totenwache in der Sakristei einer Kirche gehalten. Neben Mama Blume zu sitzen, war auf eine eigentümlich würdige Weise schön. Sie sah aus wie immer, wenn sie sich zum Mittagsschläfchen hingelegt hatte. Als könne der Tod ihr gar nichts anhaben. Leise kamen und gingen ihre Kinder, Enkel und Verwandten herein, wir flüsterten über ihren offenen Sarg hinweg. Oder schwiegen lange auf den kalten Stühlen. Manchmal erzählte jemand eine Anekdote, die mit „Weißt du noch, als Mama …“ die Stille für einen Moment erträglicher machte.

Ich blieb eine ganze Nacht lang, betrachtete ihr immer noch beseeltes Gesicht, bis es draußen langsam dämmerte. Trank dann einen Kaffee in der viel zu hell beleuchteten Gemeindeküche, auf dem Tisch türmten sich Brot, Suppe und Kuchen. Alkohol gibt es grundsätzlich nicht, aus Respekt. Es war unendlich traurig, aber niemand war damit allein. Genau so geht Abschied. Und ich wünschte mir, die ganze Welt hätte sehen können, wie viel Respekt die Sinti ihren Lieben bis zuletzt entgegenbringen.

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Mama Blume und Esmeralda vor ihrem Wahrsagewagen Anfang der 2000er-Jahre.

Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen, wir haben wieder zusammen gelacht, gegessen, weitergemacht. Baby ist wieder auf dem Dom im Wahrsagewagen und führt das Erbe ihrer Mutter weiter. Neulich hab ich die Rosenbergs besucht, bei einem Strandfest in Travemünde, in Wolklys Gypsy-Village. Die Sonne knallte vom Himmel, während Schwiegertochter Aranka auf der Bühne mit wirbelndem Kleid tanzte und dazu Lieder auf Romanes sang. Das Publikum auf der Promenade wippte freudig mit. Und Wolkly strahlte: „Genau das ist unsere Kultur!“

Auf Mama Blumes Grab blüht jetzt ein baumhoher Rosenbusch. Manchmal schaue ich vorbei und erzähle ihr was. Ich bin dankbar und stolz, dass ich sagen darf: Das sind die Rosenbergs. Meine wunderbaren, großzügigen Freunde – die zufällig auch noch Sinti sind.